Krach, Geräusch und Musik

Wie verwandt Krach und Musik doch sind: Sie gehen ineinander über, vermischen, überlagern und durchdringen  sich – bis Unterschiede kaum mehr klar zu benennen sind. Im folgenden fiktiven Gespräch beschreibe ich, wie Klangkunst, wie neue Musik aus Geräuschen entstehen kann. Zitate aus der Diskussion über die Musique concrète ergänzen den Austausch.

Frank J. Witte

Frank J. Witte · Sonofolie

▌Sie bezeichnen sich als Geräuschmusiker und sprechen von Klangkunst. Worum geht es Ihnen? – Um die Ästhetik der Geräusche oder die Musikalität von Krach?

FJW | Mir geht es darum, die Grenzen zu überschreiten zwischen dem, was wir als Geräusch bezeichnen, und dem, was wir gewöhnlich unter Musik verstehen. Es scheint da zwei Extreme zu geben: Hier das Geräusch, die Abwesenheit von Musik und dort der tonal und rhytmisch geordnete Klang. Die Regeln, die der europäischen Musik zum Beispiel, haben wir über Generationen internalisiert. Auch wenn wir beim Hören kaum darüber nachdenken, sie prägen unsere Wahrnehmung von Klängen.

Zu jeder Zeit jedoch haben Komponisten diese Regeln erweitert, gebrochen, durch neue ersetzt. Das taten Mitte des vergangenen Jahrhunderts auch Radiopioniere wie Pierre Schaeffer und seine Mitstreiter wie Pierre Henry. Sie verfolgten die Idee, aufgezeichnete Geräusche, konkrete Klänge zum kompositorischen Ausgangsmaterial zu machen. So etablierten sie den Begriff Musique concrète. Ihnen ging es, wenn Sie so wollen, tatsächlich um die Musikalität von Krach. Darum geht es auch in meiner Klangkunst, in Geräuschen neue Musik zu finden.

Ich verstehe nun, dass die Grenzen zwischen Krach und Klang reine Konvention sind.

Der Komponist »Robert Frobisher« an seinen Liebhaber »Rufus Sixsmith« in in der Literaturverfilmung »Cloud Atlas« (2012) nach David Mitchells Roman »Der Wolkenatlas«

▌Sie suchen in aufgezeichneten Geräuschen nach Musik. Woher nehmen Sie denn diese Geräusche? Was ist das Material für Ihre Kompositionen?

FJW | Ich zeichne Klänge meiner unmittelbaren Lebenswelt auf. Verkehrslärm zum Beispiel oder Regen, der auf ein Dachfenster trommelt, Vogelstimmen in der Morgendämmerung, den Klangteppich urbanen Lebens oder Brandung in den Klippen der Atlantikküste – Geräusche, wie ich sie höre, wie sie ohne mein Zutun klingen.

Andererseits fange ich auch Klänge ein, die meine Mitspieler und ich selbst erzeugen. Zum Beispiel mit Metallophonen oder anderen Objets trouvés meines Künstlerfreundes »Wolfrabe«. Das kann ebensogut ein knarrendes Stück Holz sein wie das Knistern sich entfaltender Folien oder der weit tragende Klang eines auf dem Schrottplatz geborgenen Stahlblechs.

Hand an Metallophon

Hand ans Metallophon!

Der auffälligste Unterschied zum Klang traditioneller Instrumente besteht dabei wohl im Verzicht auf das Wohltemperierte, also auf klangliche Normierung. Auch spielt das aleatorische Moment manchmal eine Rolle.

Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern … Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt …

Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)

▌Und wie entsteht aus Geräuschen Klangkunst?

FJW | Am Anfang stehen, wie gesagt, die Aufzeichnungen konkreter Geräusche. Schaeffer nannte sie Klangobjekte. Viele sind in ihrem Kontext noch gut zu erkennen. Zum Beispiel das Bimmeln einer Straßenbahn, das sich von einer Fahrradklingel unterscheidet.

Durch die Verarbeitung im Studio entziehe ich den Objekten ihren Kontext und verwandle sie manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Dann bette ich sie in einen neuen, musikalischen Kontext ein, der eigenen kompositorischen Regeln folgt. So entsteht aus Geräuschen Klangkunst, Neue Musik, Akusmatische Musik.

Schaeffers Notation zu »Sillon fermé«

Schaeffers Notation zu »Sillon fermé« (»A la recherche d’une musique concrète«, Paris 1952, S. 40.)

Als Schaeffer damit begann, musste er die Prinzipien dieser Vorgehensweise erst in ein neues kompositorisches Konzept fassen. Er nannte es »Musique concrète«. Weil sie auf konkreten Klangereignissen beruht. Klänge, die bereits »konkret« in der Welt waren und die er aufgezeichnet hatte, um sie im Studio zu verarbeiten.

Eine ganze Reihe zeitgenössischer Komponisten wie Olivier Messiaen, Darius Milhaud oder Edgard Varèse nahmen den Faden in ihren Kompositionen auf. Andererseits wurde Schaeffer bald vorgeworfen, die Arbeit mit Geräuschen habe nichts mit Musikschaffen zu tun. Das sei nur Bastelei.

▌Was sagen Sie zu dieser Kritik?

FJW | Das Verdikt der »Bricolage« geht wohl auf Pierre Boulez zurück. Er hatte zunächst Interesse an den Experimenten mit Alltagsgeräuschen. Doch wandte er sich bald davon ab.

Schaeffer widersprach Boulez‘ Kritik übrigens nicht. Und das finde ich gut. An seiner Idee ist ja gerade interessant, dass er vom abstrakten Notieren gedachter Musik absieht und sich stattdessen bereits existierende Klänge vornimmt. Als ob man die Klänge einer bereits aufgeführten Symphonie im Nachhinein zerlegte und daraus eine neue baute.

Als Kunst der fixierten Klänge ist die Musique concrète keinen a priori festgesetzten Einschränkungen ihres Klangmaterials unterworfen – insbesondere nicht restriktiven Definitionen der Musik als Tonkunst. Im Kontext der fixierten Klänge entfällt die Sonderstellung der Klänge mit eindeutig bestimmter Tonhöhe und verliert sogar die dualistische Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch an Bedeutung …

Aus einem Text zur Musique concrète von Prof. Dr. Rudolf Frisius, Karlsruhe (Stand 30.03.2014).

Im Sinne der damals ziemlich rasanten Entwicklung neuer musikalischer Strömumgen hat Schaeffer übrigens den ursprünglichen Begriff der »Musique concrète« bald durch den der »Musique électroacoustique« ersetzt.

▌Warum das?

FJW | Damals tauchten auch elektronische Klangerzeuger in den musikalischen Strömungen auf. Wenn man etwa an Karlheinz Stockhausen denkt. Und der neue Begriff der elektroakustischen Musik bezog wohl mit ein, dass diese Musik elektroakustisch, also mithilfe von Lautsprechern oder Kopfhörern zum Klingen gebracht wird. – Heute die bei weitem verbreiteste Art, Musik zu hören. Es gab damals eine ganze Reihe von Begriffsbildungen, um sich über das zu verständigen, was da an unerhört Neuem entstand. – Auch François Bayles Konzept der akusmatischen Musik ist hier zu nennen.

Karlheinz Stockhausen

Karlheinz Stockhausen im Studio für Elektronische Musik des WDR Köln

Interessant finde ich, im Sinne der Akusmatik, dass sich die Herkunft elektronisch erzeugter Klänge dem Hörer meist genauso entzieht wie der Urprung stark verarbeiteter Geräusche. Für mich heißt das: Man muss nicht wissen, was ein Geräusch ursprünglich bedeutet hat, um die damit komponierte Musik zu verstehen. Ebenso wenig wie man wissen muss, welche Funktion Oszillatoren, Ringmodulatoren oder Hüllkurven haben, um elektronische Musik zu verstehen.

▌Und wie steht es um die Klangkunst der Musique concrète heute?

FJW | Was vor Jahrzehnten eine Schaeffersche »Eisenbahn-Etüde« von elektronisch oder instrumental erzeugter Musik trennte, ist in meinen Augen längst obsolet. – Und natürlich ist Musique concrète ein historisches Konzept. Es hat sich jedoch im Lauf der Jahrzehnte immer wieder gehäutet und lebt untergründig in den heutigen Strömungen der Musik fort.

Mich inspiriert es noch immer, die schon vor fast hundert Jahren von Pionieren wie Pierre Schaeffer eröffneten musikalischen Räume weiter zu erkunden, zu erweitern und dabei neue Musik zu finden.