Was gibt’s im Album »Stream of Consciousness« zu hören? – Musik, die durch den Kopf zieht, wenn weder Ziel noch Zweck, noch Vorhaben oder Suchen den Weg verstellen und stattdessen ein Strom unbestimmter Gedanken vorbeitreibt.
Die Ideen für die Musik dieses Albums entstanden beim Eintauchen in akustische Aufnahmen, manche für Monate und Jahre im Archiv gelagert, hin und wieder gewendet und gebürstet, um sie auf ihr neues Dasein als musikalische Objekte vorzubereiten.
Es ist durchweg Musique concrète in der Tradition Pierre Schaeffers und Pierre Henrys. Der amerikanische Komponist Tod Dockstader sagt dazu, Schaeffer arbeite mit dem Klang im Ohr, direkt mit dem Klang, im Gegensatz zur „abstrakten Musik“, bei der Klänge geschrieben werden.

Kuhstall goes Konzertsaal – und ein Hafen wird zum Klangkunstwerk. Spannend und berührend.

Dieter Paul über das Album »Stream of Consciousness«

Streaming, Download, CD

»Stream of Consciousness« gibt es zum Reinhören, Download, per Streaming und auf CD:

Fanfare for the Common Cow

Bei einer Familienfeier auf dem Hof eines Milchbauern besuchte ich mit meinem Equipment den Kuhstall und war sofort fasziniert von der mächtigen körperlichen Präsenz der vierzig, fünfzig Kühe, die ihr Futter kauten. Ich hatte das Gefühl, seltsam geborgen zu sein inmitten dieser großen, dampfenden Leiber. Als ich später in die Aufnahme eintauchte, um ein Soundscape zu produzieren, entdeckte ich die anrührenden Rufe der Kälber von außerhalb des Stalls, in Boxen separiert von ihren Müttern. Und ich hörte die antwortenden Rufe der Mutterkühe heraus. Der Gedanke: Diese Kreaturen, unter denen ich mich geborgen gefühlt hatte, sie wachsen auf, gebären und bringen ihr Leben nur damit zu, uns die tägliche Milch zu liefern. Stücke atonaler Musik kamen mir in den Sinn, gespielt mitten unter den Kühen. Musik, die diesen beeindruckenden Kreaturen gewidmet ist.

Spinning Spheres

Eine chrom-glänzende, weit gefasste Metallschale und darin Objekte des Künstlers »Wolfrabe«: rätselhafte Bälle aus gordisch verschlungenem, goldfarbenem Kupferdraht. Manche so groß wie Tennisbälle, andere klein wie Murmeln. Ein Planetensystem. In kreisende Bewegung versetzt kommen Geräusche auf, die an das unerhörte Sausen vexierhafter Partikel in atomaren Dimensionen denken lassen. Wiederum ineinander gefaltet, entspringt ein Tanz der Quanten. – Aber vielleicht lassen wir besser das allzu Bildhafte: Es ist konkrete Musik, nichts sonst.

Danse Macabre

Die verbliebenen Brückenköpfe der Brücke von Remagen: Trutzige Türme aus verwitterten, düsteren Steinblöcken am Ufer des Rheins. Die Orte werden heute für Kulturveranstaltungen genutzt. Ich war eingeladen, zu einer Ausstellung des Objektkünstlers »Wolfrabe« beizutragen. Er zeigte eine Anordnung von im Raum schwebenden Rinderknochen in der Rotunde eines der Türme. Mit dieser Installation bringt der Künstler seine Gedanken über Schmerz und Tod zum Ausdruck. Mein Beitrag: Musique concrète komponiert mit den Geräuschen der in Schwingung versetzten, hin und wieder zusammenstoßenden Knochen.

Open Interval

Metallische Objets trouvés des Installationskünstlers »Wolfrabe«: Fremde Klänge, wunderliche Formen scheppernden Blechs, gewichtig kollernde Stücke, meterlange, hell läutende Lanzen aus einer matt schimmernden Aluminiumlegierung. Ein bizarres Tonbild. Und dann dieses Metallgerippe, ein Stück wie eben der Presse oder Stanze entsprungen, mit einem Klang, als verkünde es seine Freude über das Entkommen aus vollem Hals.
Los geht‘s also. Wie verloren im Getriebe bittet bald einer inständig um Geduld. Umsonst. Rythmisch vertrackte Perkussion kegelt ihn hinweg. Bis das Grollen mahnender Kontrabässe aufkommt. Wie aus dem Innern einer Kirche. Schwere Ketten rasseln und ein Getöse verbeulter Rüstungen aufeinander einschlagender Kontrahenten hebt an. Zum Ende taucht das Geduldsthema wieder auf, mit besänftigendem Geläut. Entlass mit Segen und Handreichung.

Turbinoise

Da ist diese Idee von träumenden Maschinen, die ein Orchester zusammenstellen wollen. Jede von ihnen würde ein eigenes, maschinengemäßes Instrument spielen. Die Bühne ächzte wohl unter ihrer Last. Aber was sie bei der Generalprobe erklingen lassen, vom zirpenden Singen der Piccoloblättchen kleinster Turbinen bis zu den wuchtigen Bässen der Generatorenriege, ist von berückender Poesie. Ohne Zweifel ein kakophonisches Klanggebilde ohne jedes Geländer vertrauter Hörgewohnheiten. Solches kommt in manchen Träumen ja durchaus vor.

Windsbraut über Granville

Stürmisches Wetter an der normannischen Atlantikküste. Weithin ist das furiose Klickern, Klackern und Sirren der Segelbootmasten zu hören, im Hafen der Stadt am nordöstlichen Ende der Bucht des Mont-Saint-Michel. Manche Böen drohen die Neugierigen vom Quai zu blasen.

Möwen tanzen kreischend im Sturm und die Glocken der Kirche, hoch oben auf dem Felssporn der Altstadt, läuten wie zum Alarm. Im Fischereihafen nebenan ist jedoch keine Unruhe zu spüren. Heulendes Wehen, treibende Wolkenfetzen und fliegende Gischt gehören dort zum Arbeitsalltag. Mir fällt das Bild von Max Ernst ein, »Die Windsbraut«.

Musikalisches Material

Das Geräuschmaterial für dieses Album – Klangobjekte im Sinne Pierre Schaeffers – wurde in den Jahren zwischen 2014 und 2018 an folgenden Orten aufgezeichnet:

  • Fanfare for the Common Cow: Stall eines Milchwirtschaftshofs in Overath
  • Spinning Spheres: Privates Atelier des Installationskünstlers »Wolfrabe« in Bornheim
  • Danse Macabre: In den rechtsrheinischen Brückenköpfen der Brücke von Remagen, Gemeinde Erpel
  • Open Interval: Atelier von Objektkünstler »Wolfrabe« in der ehemaligen Tapetenfabrik Bonn-Beuel
  • Turbinoise: Archiv von Objektkünstler »Wolfrabe« im Bayerhof am Rhein, Hersel
  • Windsbraut über Granville: Yachthafen von Granville, Atlantikküste der Normandie

Erarbeitung der musikalischen Objekte, der Komposition sowie ergänzender Instrumentalsätze, Abmischung und Mastering: Studio Sonofolie, Frank J. Witte. Verwendete Werkzeuge: Steinberg Cubase, Steinberg Halion, Vienna Symphonic Library, Izotope Iris, Celemony Melodyne, Fabfilter.

Mikrofonierung

MS, ORTF, AB mit Schoeps MK4, MK21+MK8, MK2S, Microtech Gefell M 320, Soundman OKM II.

Bildnachweis

Die abgebildeten Kunstobjekte waren teils in Ausstellungen des Installationskünstlers Wolf Rabe zu sehen, teils stammen sie aus seinen Archiven.
Fotos: Bernd Zöllner, Bonn – Wolf Rabe, Bad Honnef – Dorothea Witte, Saarbrücken

Compact Disc

℗ 2020 Hey!Blau Records, HBL-20134, LC 22792
Pressung & Herstellung HOFA GmbH