Stream of Consciousness
Die Ideen für dieses Album entstanden beim Eintauchen in akustisches Material, manches für Jahre im Archiv gelagert, immer mal gewendet und gebürstet, um sich schließlich in Musik zu verwandeln. Es ist durchweg Musique concrète in der Tradition Pierre Schaeffers und Pierre Henrys. Da gibt es also Spannendes zu entdecken – im Sinne Schaeffers ein »Konzert der Geräusche«.
▌Fanfare for the Common Cow
Bei einer Familienfeier auf dem Hof eines Milchbauern besuchte ich mit meinem Equipment den Kuhstall.
Ich war sofort fasziniert von der mächtigen körperlichen Präsenz der vierzig, fünfzig Kühe, die ihr Futter kauten. Ich hatte das Gefühl, seltsam geborgen zu sein inmitten dieser großen, dampfenden Leiber.
Erst beim Bearbeiten der Aufnahme entdeckte ich die anrührenden Rufe der Kälber von außerhalb des Stalls, in Boxen separiert von ihren Müttern. Und ich hörte die antwortenden Rufe der Mutterkühe heraus.
Der Gedanke: Diese Kreaturen, unter denen ich mich so geborgen gefühlt hatte, sie wachsen auf, gebären und bringen ihr Leben nur damit zu, uns die tägliche Milch zu liefern. Stücke atonaler Musik kamen mir in den Sinn, gespielt mitten unter den Kühen. Musik, die diesen beeindruckenden Kreaturen gewidmet ist.
▌Spinning Spheres
Eine chrom-glänzende, weit gefasste Metallschale und darin Objekte des Künstlers Wolf Rabe: rätselhafte Bälle aus gordisch verschlungenem, goldfarbenem Kupferdraht. Manche so groß wie Tennisbälle, andere klein wie Murmeln.
Ein Planetensystem. In kreisende Bewegung versetzt kommen Geräusche auf, die an das unerhörte Sausen vexierhafter Partikel in atomaren Dimensionen denken lassen. Wiederum ineinander gefaltet, entspringt ein Tanz der Quanten. Aber bevor wir uns darin verlieren: Es ist einfach konkrete Musik, nichts sonst.
▌Danse Macabre
Die verbliebenen Brückenköpfe der Brücke von Remagen: Trutzige Türme aus verwitterten, düsteren Steinblöcken am Ufer des Rheins. Die Orte werden heute für Kulturveranstaltungen genutzt. Ich war eingeladen, zu einer Ausstellung des Künstlers Wolf Rabe beizutragen.
Er zeigte eine Anordnung von im Raum schwebenden Rinderknochen in der Rotunde eines der Türme. Mit dieser Installation bringt der Künstler seine Gedanken über Schmerz und Tod zum Ausdruck.
Mein Beitrag: Musique concrète komponiert mit den Geräuschen der in Schwingung versetzten, hin und wieder rhythmisch zusammenstoßenden Knochen.
▌Open Interval
Metallische Objets trouvés in den Installationen des Künstlers Wolf Rabe: Fremde Klänge, wunderliche Formen scheppernden Blechs, gewichtig kollernde Stücke, meterlange, hell läutende Lanzen aus einer matt schimmernden Aluminiumlegierung. Ein bizarres Tonbild. Und dann dieses Metallgerippe, ein Stück wie eben der Presse oder Stanze entsprungen, mit einem Klang, als verkünde es seine Freude über das Entkommen aus vollem Hals.
Legen wir los: Wie verloren im Getriebe bittet bald einer inständig um Geduld. Umsonst! Rhythmisch vertrackte Perkussion kegelt ihn weg. Bis das Grollen mahnender Kontrabässe aufkommt. Wie aus dem Inneren einer Kirche. Schwere Ketten rasseln und das Getöse verbeulter Rüstungen aufeinander einschlagender Kontrahenten hebt an. Zum Ende taucht das Geduldsthema wieder auf, mit besänftigendem Geläut. Entlass mit Segen und Handreichung.
▌Turbinoise
Da ist diese Idee von träumenden Maschinen, die ein Orchester zusammenstellen wollen. Jede von ihnen würde ein eigenes, maschinengemäßes Instrument spielen. Die Bühne ächzte wohl unter ihrer Last.
Aber was sie bei der Generalprobe erklingen lassen, vom zirpenden Singen der Piccoloblättchen kleinster Turbinen bis zu den wuchtigen Bässen der Generatorenriege, ist von berückender Poesie. Ohne Zweifel ein kakophonisches Klanggebilde ohne jedes Geländer vertrauter Hörgewohnheiten. Solches kommt in manchen Träumen ja durchaus vor.
▌Windsbraut über Granville
Stürmisches Wetter an der normannischen Atlantikküste. Weithin ist das furiose Klickern, Klackern und Sirren der Segelbootmasten zu hören, im Hafen der Stadt am nordöstlichen Ende der Bucht des Mont-Saint-Michel. Manche Böen drohen die Neugierigen vom Quai zu blasen.
Möwen tanzen kreischend im Sturm und die Glocken der Kirche, hoch oben auf dem Felssporn der Altstadt, läuten wie zum Alarm. Im Fischereihafen nebenan ist jedoch keine Unruhe zu spüren. Heulendes Wehen, treibende Wolkenfetzen und fliegende Gischt gehören dort zum Arbeitsalltag. Mir fällt das Bild von Max Ernst ein, »Die Windsbraut«.
Klangobjekte, Technik
Das akustische Material, Klangobjekte im Sinne Pierre Schaeffers, habe ich zwischen 2014 und 2018 an folgenden Orten aufgezeichnet:
Erarbeitung der musikalischen Objekte, der Komposition sowie ergänzender Instrumentalsätze, Abmischung und Mastering: Studio Sonofolie, Frank J. Witte.
Technik und Werkzeuge
Mikrofonierung der akustischen Aufnahmen: MS, ORTF, AB mit Schoeps MK4, MK21+MK8, MK2S, Microtech Gefell M 320, Soundman OKM-II.
Verwendet habe ich unter anderem: Steinberg Cubase, Steinberg Halion, Vienna Symphonic Library, Izotope Iris, Celemony Melodyne, Fabfilter.
Bildnachweise
Die abgebildeten Kunstobjekte waren teils in Ausstellungen des Installationskünstlers Wolf Rabe zu sehen, teils stammen sie aus seinen Archiven. Fotos: Bernd Zöllner, Bonn; Wolf Rabe, Bad Honnef; Dorothea Witte, Saarbrücken
»Stream of Consciousness« auf CD
© 2020 Sonofolie · Frank J. Witte · HBL-20134
℗ 2020 Hey!Blau Records · LC 22792
Pressung & Herstellung HOFA GmbH